25

 

Als er wieder zu sich kam, würgte und hustete er. Er befand sich noch immer unter dem Eisenbaum. Sam versuchte aufzustehen, aber eine tiefe Stimme brummte: »Keine Bewegung. Sei still – oder ich hau dir mit dieser Axt den Schädel ein!«

Sam schaute sich um. Lothar lag mit auf dem Rücken gefesselten Händen und einem Knebel im Mund in einiger Entfernung gegen den Stamm eines Nadelbaumes gelehnt. Der Mann, der Sam angesprochen hatte, war ungeheuer groß und besaß extrem breite Schultern und kräftige Arme. Er trug einen schwarzen Kilt und einen ebensolchen Umhang. Mehrere an seinem Gürtel befestigte Scheiden enthielten einen eisernen Tomahawk, ein Messer und eine Mark-I-Pistole. In einer Hand leuchtete eine mittelgroße Metallaxt.

»Bist du Sam Clemens?« fragte er.

»Richtig«, gab Sam zurück. Er sprach ebenso leise. »Was hat das zu bedeuten? Wer sind Sie?«

Der Mann deutete mit seinem langhaarigen Schädel auf Lothar. »Ich hab ihn weggeschleppt, damit er nicht hört, was wir reden. Ein Mann, den wir beide kennen, hat mich hergeschickt.«

Sam schwieg eine Weile. Dann fragte er: »Der geheimnisvolle Fremde?«

Der große Mann grunzte. »Ja. So nennst du ihn, hat er gesagt. Und das paßt zu ihm. Ich nehme an, du weißt, was los ist, ich kann mir also sparen, mir das Kinn zu verrenken. Also reicht’s dir, wenn ich sage, daß ich mit ihm geredet habe?«

»Sicher«, gab Sam zurück. »Ich glaube dir, daß das wahr ist. Du bist einer der zwölf Auserwählten. Es war doch ein Mann, mit dem du sprachst, oder?«

»Hab ihn mir nicht geschnappt, um das rauszukriegen«, erwiderte der Unbekannte. »Ich sag’ dir was: Dieser Kerl ist jedem überlegen, egal ob er weiß, schwarz, rot oder gelb ist. Selbst ein Grizzly würde Mücke machen, wenn der ihm über den Weg liefe. Glaub ja nicht, ich hätte Angst vor ihm gehabt… aber ‘s war schon… na, komisch halt. Kam mir beinahe wie ein Grünhorn vor, als ich mit ihm sprach. – Aber lassen wir das. Ich bin Johns ton. Kann dir gleich meine Geschichte erzählen, erspart mir Arbeit für die Zukunft. John Johnston. Ich muß irgendwann um 1827 in New Jersey geboren worden sein. Gestorben bin ich 1900 in Los Angeles im Veteranen-Hospital. Hab hin und wieder als Trapper in den Rocky Mountains gearbeitet und vor der Zeit hier ‘n paar hundert Indianer umgelegt. Bin nie dazu gekommen, ‘n Weißen zu töten, nicht mal ‘n Franzosen. Jedenfalls nicht, bevor ich hier war. Seitdem, na ja, hab’ ich auch ‘n paar weiße Skalps gesammelt.«

Der Mann stand auf. Das Sternenlicht stand jetzt in seinem Rücken und Sam konnte sehen, daß sein Haar dunkel schimmerte. Er zweifelte allerdings nicht daran, daß es sich im hellen Sonnenlicht als feuerrot entpuppen würde.

»Ich red’ jetzt ‘ne Menge mehr als sonst«, sagte der Mann. »Wo viele Leute sind, wird auch viel geredet. Das ist nicht gut für meiner Mutter Sohn.«

Sie gingen zu Lothar hinüber und unterwegs fragte Sam: »Wie bist du hierher gekommen? Und ausgerechnet jetzt?«

»Der Fremde sagte, wo ich dich finden würde. Erzählte mir alles über dich und dein Boot und den Nebelturm und so was. Warum alles wiederkäuen? Du weißt doch Bescheid. Ich war damit einverstanden, hierher zukommen und bei der Reise dabei zu sein. Ist eh nicht genug Platz hier. Man kann sich kaum umdrehen, ohne nicht einem dabei mit dem Ellbogen das Nasenbein einzuhauen. Ich war dreißigtausend Meilen flußaufwärts von hier, als ich nachts wach wurde und der Kerl neben mir im Dunkeln hockte. Wir haben ‘ne Menge miteinander geredet. Er allerdings das meiste. Dann bin ich sofort los. Auf dem Weg hierher kriegte ich schon einiges von dem, was hier los war, mit. Ich kam hier an, als die Schlacht in vollem Gange war, und hab seitdem nach dir Ausschau gehalten. Hörte auch ‘n paar Schwarzen zu, die sich unterhielten. Die waren mächtig sauer, weil sie deine Leiche nicht finden konnten. Bin also rumgeschlichen und hab die Ohren aufgehalten. Einmal lief mir so ‘n Araber über den Weg. Mußte ihn umlegen. Na ja, ich hatte sowieso Hunger.«

Sie hatten Lothar jetzt erreicht, aber die letzten Worte Johnstons ließen Sam erschreckt zusammenzucken. »Hunger?« sagte er. »Soll das heißen…?«

Johnston gab keine Antwort. Sam sagte: »Sag mal… äh… du bist doch nicht etwa der Johns ton, den man >Leberesser< Johnston nannte? Der Crow-Killer?«

Johns ton knurrte: »Hab endlich doch noch meinen Frieden mit den Crows gemacht und bin ihr Bruder geworden. Hab auch kurz drauf Schluß damit gemacht, Menschenleber zu essen. Aber hin und wieder hat man ja nun mal Hunger.«

Sam fröstelte. Er kniete sich auf den Boden nieder, löste Lothars Fesseln und nahm ihm den Knebel aus dem Mund. Von Richthofen schien ziemlich wütend zu sein, aber er war nicht weniger neugierig. Und ebenso wie Sam verhielt er sich Johnston gegenüber zurückhaltend. Der Mann strahlte eine tierische Rohheit aus. Ohne ihn näher zu kennen, wußte Sam plötzlich, daß es äußerst ungesund sein konnte, ihn sich zum Feind zu machen.

Dann schlugen sie den Weg zur Staumauer ein. Lange Zeit sagte Johnston kein Wort. Plötzlich verschwand er und ließ Sam und Lothar mit einem unbestimmten Gefühl in der Magengrube zurück. Johns ton bewegte sich, obwohl er Sam und Lothar um Haupteslänge überragte und mindestens zweihundertachtzig Pfund Knochen und Muskeln auf die Waage brachte, leiser als der Schatten eines Pumas.

Sam fuhr erschreckt zusammen. Johnston war wieder da. »Ist was passiert?«

»Keine Ursache«, erwiderte Johnston. »Wie du sagtest, seid ihr noch nicht viel hier rumgekommen. Ich hab aber ‘ne Menge gesehen und gehört. Kenn die Lage ziemlich gut. Von euren Leuten sind ‘ne Menge im Norden und Süden über die Grenzen abgehauen. Wenn die zurückkämen, könnten sie den Schwarzen anständig die Backen vollhauen. Na ja, die werden auf lange Sicht eh den kürzeren ziehen. Iyeyasu wetzt schon seine Messer. Würd mich nicht mal überraschen, wenn er heute nacht zuschlägt. Hab mich ‘n bißchen umgesehen bei ihm, ehe ich rüberkam. Er hat keine Lust, sich mit den Schwarzen rumzuschlagen, wenn die das Schiff erst fertighaben. Er wird es ihnen abnehmen, solange er noch kann.«

Sam stöhnte auf. Wenn er das Schiff schon nicht zurückbekommen konnte, machte es auch keinen Unterschied mehr, ob Hacking oder Iyeyasu es hatte. Erst als sie sich wieder im Inneren des Staudammes aufhielt, fühlte er sich wieder etwas besser. Es bestand immer noch die Möglichkeit, daß Hacking und Iyeyasu sich gegenseitig zerfleischten. Wenn dieser Wunsch in Erfüllung ging… konnten seine Leute wieder zurückkehren und die Macht erneut übernehmen. Verloren war jedenfalls bis jetzt noch nichts.

Die Ankunft des herkulisch gebauten Trappers gab Sam zudem einen starken innerlichen Auftrieb. Der geheimnisvolle Renegat hatte ihn also doch nicht im Stich gelassen. Er verfolgte weiterhin seinen Plan und hatte ihm einen verdammt guten Mann zu Hilfe geschickt. Johnston würde sich, wenn man den Geschichten, die man auf der Erde über ihn verbreitet hatte, stimmten, noch als Kämpfer von unschätzbarem Wert erweisen. Und außerdem war er der sechste Mann, den der Fremde auserwählt hatte. Irgendwann mußten auch die restlichen zu ihnen stoßen. Schade war nur, daß der erste bereits wieder von ihnen gegangen war: Odysseus war verschwunden. Aber das mußte nicht heißen, daß er nicht eines Tages zurückkehrte. Der Fluß war lang; er konnte praktisch an jeder beliebigen Stelle wieder zusteigen. Wenn die anderen Ethiker ihn nicht schon erwischt hatten.

Im Versteck angekommen, stellte Sam den anderen Johnston vor und erklärte ihr Zusammentreffen. Joe Miller, in mehrere Decken eingemummt, setzte sich auf und schüttelte dem Trapper die Hand. Mit schmerzverzerrter Stimme sagte Johnston: »Im Laufe des Lebens hat meiner Mutter Sohn schon ‘ne Menge seltsamer Sachen gesehen, aber niemals jemanden wie dich. Laß meine Hand trotzdem heil, mein Freund.«

»Oh, ich wollte fie gar nicht kaputtmachen«, erwiderte Joe freundlich. »Du feinft fiemlich grof unf ftark fu fein.«

Etwa eine halbe Stunde vor dem Anfang der Regenperiode schlichen sie wieder hinaus. Das Land war still. Die siegreichen Truppen hatten sich zur Ruhe gelegt, und die Wachen hatten sich angesichts des bevorstehenden Regens ein Dach über dem Kopf gesucht. Die Feuer brannten noch, und die Wachtürme und Fabrikhallen waren voller Bewaffneter. Die Nachtwache schien jedoch mit dem Trinken aufgehört zu haben. Vielleicht hatte Hacking es ihr untersagt.

Als sie die chemische Fabrik erreichten, tauchte Johns ton plötzlich in der Dunkelheit unter und verschwand. Zehn Minuten später war er wieder da.

»Hab mal ‘n bißchen rumgehorcht«, flüsterte er. »Dieser Hacking muß ja ‘n verdammt schlauer Nigger sein. Hat das ganze Gesaufe nur inszenieren lassen, um irgendwelche Spione aus Iyeyasujo reinzulegen. Der weiß genau, daß der Japs ihm heute nacht auf die Bude rücken will; deswegen hat er seine Leute so tun lassen, als seien sie sternhagelvoll und schnarchen. Aber die sind in Wahrheit mächtig auf Zack. Haben nur ‘n kleines Problem: Ihr Schießpulver ist fast alle.«

Die Nachricht verwunderte Sam sehr. Er fragte Johnston, ob er sonst noch etwas gehört habe.

»Yeah, ‘n paar von den Leuten sprachen darüber, warum Hacking Parolando überhaupt an sich gerissen hat. Der Bursche wußte, daß Iyeyasu den gleichen Plan hatte; deswegen hat er seine Kanonen anrollen lassen. Er hatte Angst, der Japs würde sich das Land einkassieren und dann mit den Schiffen, Kanonen und all dem anderen gegen ihn marschieren. Einer sagte, er hätte mit König John unter der Decke gesteckt, aber dann hätte er ihn doch mit seinem Haus in die Luft geblasen, weil er ihm nicht übern Weg traute. Er hielt diesen John für einen falschen Fuffziger. Selbst wenn er Hacking diesmal wirklich nicht hatte betrügen wollen, sei er immerhin ein Weißer und schon deswegen ein falscher Hund.«

Sam sagte überrascht: »Aber warum zum Teufel hätte John das tun sollen? Was hätte er damit gewinnen können?«

»Hacking und er wollten einen hundert Meilen langen Uferstreifen an sich reißen und dann unter sich aufteilen. Auf der einen Hälfte sollten die Weißen unter der Herrschaft Johns, auf der anderen die Schwarzen unter Hacking leben. Sie wollten alles teilen: das Eisen, die Schiffe und alles andere.«

»Und was ist mit Firebrass? Warum sitzt er gefangen in diesem Käfig?«

»Weiß nicht, aber einer nannte ihn einen Verräter. Und dieser Kraut, wie hieß er doch gleich? Hering…«

»Göring.«

»Yeah, richtig. Nun, es geht nicht auf das Konto von Hacking, daß man ihn gefoltert hat. Es waren die Wahhabis. Sie mögen die Chancisten nicht, weißt du, und so schnappten sie sich den Kerl und verpaßten ihm eins. Ein paar der afrikanischen Nigger, diese Kerle aus Dahomey, unterstützten sie dabei. Von denen erzählt man sich, daß sie schon vor dem Frühstück ‘n paar Leute foltern müssen, um glücklich zu sein. Als Hacking das rauskriegte, rannte er los und stoppte die ganze Sache, aber da lag Göring schon im Sterben. Er hat aber noch mit Hacking gesprochen, sagte, er sei sein Seelenbruder und würde ihm vergeben. Dann sagte er noch, sie würden sich schon irgendwann am Fluß wiedertreffen oder so was. Hacking soll mit den Nerven ziemlich fertig gewesen sein, nach dem, was die Leute reden.«

Sam schluckte auch diese Neuigkeiten, wenngleich es seinem Magen kaum gelang, sie zu verdauen. Ihm war übel. Er konnte sich nicht einmal darüber freuen, daß Hacking am Ende doch noch den größten Betrüger aller Zeiten, John Lackland, hereingelegt hatte. Dennoch mußte er Hackings Weitsicht bewundern. Dem Mann war sofort klar geworden, daß es nur eine Art gab, mit John einen Handel abzuschließen. Er hatte es genau richtig gemacht; aber schließlich verfügte er nicht über Sam Clemens’ empfindliches Gewissen.

Diese Nachrichten veränderten alles. Unter dem Aspekt, daß Iyeyasu sich bereits jetzt schon auf dem Weg nach Parolando befand, konnten sie den Plan, das Dunkel der Nacht auszunutzen, um über die Grenze zu gehen, vergessen: Hackings Leute würden auf alle Fälle wachsam sein.

»Was ist los, Sam?« frage Livy plötzlich. Sie saß in der Nähe und warf ihm einen ratlosen Blick zu.

»Ich glaube, mit uns ist es aus.«

»Oh, Sam!« erwiderte sie. »Wo ist dein Schneid geblieben? Es ist nicht aus mit uns! Wenn die Dinge sich nicht so entwickeln, wie du sie erwartet hast, wirfst du gleich die Flinte ins Korn! Und dabei ist die Möglichkeit, daß wir das Schiff wieder zurückkriegen, nie so groß gewesen wie gerade jetzt! Laß Hacking und Iyeyasu übereinander herfallen! Sie werden sich gegenseitig vernichten, und dann ist der Weg für uns wieder offen. Wir brauchen nichts anderes zu tun, als uns in den Hügeln zu verkriechen und ihnen dann, wenn sie das letzte Todesröcheln von sich geben, an die Kehle zu springen!«

Wütend erwiderte Sam: »Wovon redest du überhaupt? Sollen wir ihnen mit fünfzehn Mann den Garaus machen?«

»Nein, du Dummkopf! Hinter dem Palisadenzaun da hinten warten mindestens fünfhundert Leute darauf, daß sie befreit werden, und Gott allein mag wissen, wie viele von diesen Lagern es in der Umgebung sonst noch gibt! Und was ist mit den Tausenden, die über die Grenze gingen?«

»Und wie soll ich an die herankommen?« fragte Sam aufgebracht. »Es ist zu spät! Ich gehe jede Wette ein, daß der Angriff in ein paar Stunden stattfindet, und du kannst Gift drauf nehmen, daß diejenigen, die entkommen sind, ebenfalls in irgendwelchen Gefangenenlagern sitzen. Ich zweifle nicht daran, daß Publius Crassus und Chernsky mit Hacking unter einer Decke stecken.«

»Du bist immer noch der alte Pessimist, der du auf der Erde warst«, sagte Livy. »Oh, Sam, irgendwie liebe ich dich immer noch, das stimmt. Ich mag dich immer noch als Freund und…«

»Freund!« sagte Sam so laut, daß die anderen erschreckt zusammenzuckten. Cyrano sagte: »Morbleu!«, und Johnston zischte: »Leise, oder willst du die schwarzen Indianer auf uns hetzen?«

»Wir haben uns jahrelang geliebt«, sagte Sam.

»Nicht immer«, sagte Livy. »Aber jetzt ist weder die richtige Zeit noch der richtige Ort, über unsere Fehler zu diskutieren. Ich habe jedenfalls keine Lust dazu. Es ist zu spät dafür. Die Frage ist jetzt nur: Willst du dein Schiff zurück oder nicht?«

»Sicher will ich es zurück«, sagte Sam zögernd. »Aber auf was willst du hinaus?«

»Dann heb deinen lahmen Arsch, Sam!«

Aus dem Mund jedes anderen wäre diese Bemerkung nichts Ungewöhnliches gewesen, aber aus dem Mund der akzentuiert sprechenden Livy war sie einfach undenkbar. Aber sie hatte es ausgesprochen, und jetzt, da er darüber nachdachte, fielen ihm Dinge ein, die auf der Erde geschehen waren. Er hatte sie aus seinem Bewußtsein verdrängt…

»Die Lady spricht ein wahres Wort gelassen aus«, murmelte Johns ton mit tiefer Stimme.

Sam hatte eigentlich über weit wichtigere Dinge nachdenken wollen, aber offenbar blieb es seinem Unterbewußtsein überlassen, aus all dem die richtigen Schlüsse zu ziehen. Zum erstenmal in seinem Leben verstand Sam Clemens mit allen Fasern seines Körpers, daß die Frau, die jetzt vor ihm stand, nichts, aber auch gar nichts mehr mit jener Livy zu tun hatte, die einst seine Frau gewesen war. Sie hatte einen Veränderungsprozeß durchgemacht. Sie war nicht mehr die Livy, die er gekannt hatte, seine Livy. Und das war sie schon lange nicht mehr gewesen, schon nicht mehr auf der Erde, während der letzten Jahres ihres Lebens.

»Was sagst du dazu, Sam?« fragte Johnston.

Sam stieß einen tiefen Seufzer aus und kam sich vor, als wichen damit die letzten Fragmente der Olivia Langdon Clemens von ihm. Dann erwiderte er: »Das werden wir tun!«

 

Der Regen rauschte nieder; Blitze und Donner machten das Land nun zu einem idealen Operationsgebiet. Johnston tauchte unter und kam bald darauf mit zwei Bazookas und vier zusammengebundenen Raketen auf dem Rücken wieder. Er ging noch ein zweites Mal und kam eine halbe Stunde später mit Wurfmessern und Tomahawks beladen zurück. Einige vorher nicht dagewesene Blutflecke auf seiner Kleidung deuteten darauf hin, daß er mit irgend jemand zusammengeraten war.

Die Regenwolken verzogen sich. Das Land lag silbern im Schein der Sterne da, die wie zahllose, riesengroße Äpfel in den Zweigen der mächtigen Eisenbäume zu hängen schienen. Dann wurde es merklich kühler. Zitternd versammelte man sich unter dem Geäst des Baumes. Über dem Fluß stieg dünner Nebel auf, der fünfzehn Minuten später so undurchdringlich war, daß man die Gralsteine und Uferwälle aus den Augen verlor. Eine halbe Stunde später schlug Iyeyasu zu. Große und kleine Schiffe, vollgestopft mit Männern und Waffen, kamen über den Fluß, und zwar aus jenem Gebiet, in dem einst die Fuchsindianer geherrscht hatten, die jetzt unter Iyeyasus Kommando standen. Auch die Ulmaks kamen und die Buschmann-Hottentotten, die früher keiner Seele etwas zuleide getan hatten. Iyeyasu hatte alle Kräfte zusammengezogen, über die er verfügte, aber seine Hauptstreitmacht kam vom rechten Ufer, aus den drei Ländern, die er erst kurz zuvor unterworfen hatte.

Seine Truppen griffen gleichzeitig an zehn verschiedenen Stellen an. Minen jagten die Uferwälle in die Luft, dann stürmten seine Krieger durch die entstandenen Breschen. Die Anzahl der in den ersten zehn Minuten abgefeuerten Raketen war ungeheuer; Iyeyasu schien wirklich auf alles bestens vorbereitet gewesen zu sein. Die drei Amphibienfahrzeuge setzten sich in Bewegung, während von den Türmen aus wild geschossen wurde. Sie rückten erbarmungslos gegen die Eindringlinge vor, aber dann zog Iyeyasu einen weiteren Triumph aus dem Ärmel. Raketen mit hölzernen Sprengköpfen, die gelierten Alkohol (aus Seife und Methylalkohol) enthielten, jagten auf die drei Fahrzeuge zu und detonierten. Das primitive Napalm ergoß sich über die metallenen Hüllen und steckte sie in Brand. Selbst wenn die Flüssigkeit nicht das Innere der Boote erreichte, so sorgten die Flammen doch dafür, daß die Lungen der Besatzungsmitglieder verbrannten.

Die Wirkung dieser Waffen nahm Sam ziemlich mit. Als alles vorüber war und er sich umsah, um festzustellen, ob sie noch alle beisammen waren, unterhielt er sich mit Lothar darüber. »Wir müssen die Dinger dichter machen«, sagte er, »und eine eigene Sauerstoffversorgungsanlage installieren. Das hat Firebrass auch schon vorgeschlagen.«

Johnston tauchte plötzlich so unerwartet zwischen ihnen auf, als habe er eine unsichtbare Tür durchschritten. Hinter ihm stand Firebrass. Der Mann schien ziemlich fertig zu sein und Schmerzen zu haben, aber trotzdem gelang es ihm, ein Grinsen zustande zu bringen, als er Sam sah. Er zitterte.

»Man hat Hacking erzählt, ich hätte ihn betrogen«, sagte Firebrass. »Und er glaubte seinem Informanten, der nebenbei gesagt niemand anderer als unser allseits hochverehrter und absolut vertrauenswürdiger König John war. Er erzählte Hacking, daß ich im Begriff sei, ihn zu verkaufen, nur um Chef Ihrer Luftflotte zu werden. Hacking nahm mir nicht ab, daß ich lediglich deswegen mit Ihnen herumschacherte, weil ich nicht Ihr Chefingenieur sein wollte. Ich hätte ihm durch unsere Spione mitteilen lassen sollen, was ich tat. Ich konnte ihn anschließend nicht davon überzeugen, daß ich wirklich nicht vorhatte, ihn übers Ohr zu hauen. Aber das hätte mich eigentlich nicht überraschen sollen. Na ja, ich kann es ihm nicht mal übernehmen.«

»Haben Sie ihn denn betrogen?« fragte Sam.

»Nein«, grinste Firebrass. »Das habe ich nicht getan, obwohl es mich manchmal in den Fingern juckte. Aber warum sollte ich ihn reinlegen, wo er mir doch sowieso versprochen hatte, daß ich wieder fliegen dürfte, wenn er erst einmal Ihr Schiff besäße? Tatsache ist, daß er John schon deswegen glaubte, weil er etwas gegen mich hat. Ich entspreche einfach nicht seinen Vorstellungen von einem Seelenbruder. Und im Gegensatz zu ihm hatte ich früher einfach ein zu leichtes Leben – für seinen Geschmack. Es paßte ihm nicht, daß ich niemals in einem Ghetto hatte leben müssen.«

»Sie können den Posten des Chefingenieurs immer noch haben«, sagte Sam. »Sie werden sicher einsehen, daß ich Ihnen nicht die Leitung der Luftflotte anvertrauen kann. Aber fliegen könnten Sie jederzeit, wenn Sie das wünschten.«

»Das ist das beste Angebot seit dem Tag meines Todes«, erwiderte Firebrass. »Und ich werde es annehmen.«

Er kam näher und flüsterte Sam ins Ohr: »In irgendeiner Funktion hätten Sie mich sowieso einstellen müssen. Ich bin nämlich einer der Zwölf!«

 

Auf dem Zeitstrom
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